Texte


Südwestdeutscher Keramikpreis 2017

„Die in besonderem Maße authentischen und unverwechselbaren Figuren „Uniform“, „Hoodie“ und „schwarzrotgold“, für die Stephanie Marie Roos den ersten Preis des Südwestdeutschen Keramikpreises erhielt, sprengen die Eindeutigkeit der Interpretation auf und liefern eine breite Projektionsfläche für inhaltliche Auslegungen und Zugänge. So ist es naheliegend, ihre figurativen Keramiken mit Adjektiven wie ambivalent, hinter-
tragend, rätselhaft, vielschichtig oder irritierend zu umschreiben. Stephanie Marie Roos, die für ihr figuratives Werk bereits international bekannt ist, überzeugte die Jury mit ihrer professionellen, kreativen Umsetzung sozialkritischer Themen in Keramik.

Mit sparsamen gezielt eingesetzten Requisiten schafft es Roos, die Arbeit „Uniform“ in einen rätselhaften unerwarteten Kontext zu versetzen. Die Frau in hautengem Kleid mit Militär-Tarnmuster irritiert, da der Stoff statt in typischem Erde-Olivton in helles Rosa-Rot gefärbt ist und eine Designertasche als Kopfbedeckung dient. Was wird hier getarnt?
Steht die Tasche stellvertretend für einen militärischen Helm oder eine Verschleierung der Frau? Warum steht die Plastik auf einem Sockel, erhoben wie ein Soldaten-Denkmal? Fragen über Fragen ergeben sich bei der Betrachtung. René Mag ritte, dem Meister des Surrealen, würde dieser spielerisch leichte, aber niemals leichtfertige Umgang mit einzelnen Konnotationen sicherlich gefallen. Die Künstlerin knüpft mit ihren detailliert ausgearbeiteten Keramiken unmissverständlich an aktuelle gesellschaftliche und politische Themen an.
In der Figur „schwarzrotgold“ bemalt sich eine junge Frau ihre Fingernägel mit Nagellack in schwarz+rot+gold, was eine eindeutig politische Konnotation hervorruft.
Und in der Plastik „Hoodie“wird ein psychologischer Moment erzeugt, der aufgrund des tief ins Gesicht gezogenen Kapuzenpullovers und der Gesichtsfarbe des Mannes ausgelöst wird. Neben den individuellen Gesichtszügen glaubt man hier, eine innere Zerrissenheit und Einsamkeit zu spüren.
Die Künstlerin interpretiert in ihrem wiedererkennbaren Stil immer wieder neue Ansichten eines bewusst kritischen Standpunktes des Zwischenmenschlichen in unserer Alltagswelt. Durch die Beobachtung des echten modernen Lebens generiert Roos in ihrer nahezu perfekten Figurenwelt eine Konstruktion aus vielschichtigen Erzählfiktionen und Ambivalenzen. Die enorme Präsenz der Arbeiten entsteht dabei auch durch die gekonnte Oberflächenbehandlung des Tons, die Farbauswahl und den ausgearbeiteten Faltenwurf. Damit wird offensichtlich, dass Roos‘ souveräner Umgang mit der Bildhauerkunst sie in den Bereich der bildenden Kunst verorten lässt. Die Figuren mögen den Betrachter erstaunen, unberührt lassen ihn diese nicht.“

Jurybegründung Südwestdeutscher Keramikpreis 2017
(Der Jury gehörten an: Monika Gass, ehemalige Leiterin des Keramikmuseums Westerwald; Dr. Joanna Flawia Figiel, Kuratorin für Keramik am Badischen Landesmuseum Karlsruhe; Dr. Verena Titze-Winter, Leiterin der Kunst- und Kulturförderung der SV SparkassenVersicherung; Dr. Maria Schüly, Kuratorin im Förderkreis Keramikmuseum Staufen e.V.; Matthias Hirtreiter, Künstler, Keramiker Bildhauer, Akademie München)

Kunstportal Baden-Württemberg

Die „Hybridin“ war die erste Skulptur, die ich von der Bildhauerin Stephanie Marie Roos gesehen habe. Die Gedok Karlsruhe hat mir ein Bild dieser Skulptur gesandt, weil dort – im Rahmen der Ausstellung „SECHS NEUE“ (14.03. – 09.04.20) – Stephanie Marie Roos als eine der seit 2018 neu aufgenommenen Künstlerinnen vorgestellt wird.
Am ersten Tag der art Karlsruhe 2020 habe ich die Künstlerin dann auf der Messe persönlich kennen gelernt.
Am Messestand der Majolika-Manufaktur Karlsruhe waren einige ihrer Arbeiten zu sehen. Die Künstlerin, die in ihrem Atelier einen eigenen Brennofen hat, erklärt zu ihrer Arbeit:

„Meine Arbeiten sind hohl aufgebaut, dünnwandig, meist unglasiert, da ich die zeichnerischen Strukturen in der Oberfläche erhalten möchte. Farben werden im ungebrannten Zustand als Engobe aufgebracht. Glasur kommt dann zum Einsatz, wenn ein Element glänzen soll, wie zum Beispiel ein Spiegel oder glänzende Fäden in einem Textil.“
Die Arbeiten der Künstlerin, in deren Figuren man einen autobiographischen Bezug vermutet, verbindet meist ein feiner Humor – ein lakonischer Blick auf die Welt scheint ihnen eigen. Distanz und Nähe in einer sehr spannenden Verbindung.
„Verstehen, wie wir Menschen funktionieren“ benennt die Künstlerin eines ihrer zentralen Motive. Es geht ihr dabei nicht um medizinische oder naturwissenschaftliche Zusammenhänge: Stephanie Marie Roos interessiert sich dafür, wie Menschen sich selbst begreifen, ihre Identität suchen und definieren.
Dies allein – schon schwierig genug – wäre eine umfassende Agenda für künstlerische Arbeit. Wer aber nach Identität und nach Individualität fragt, eröffnet ein unendlich erscheinendes Feld: der Mensch – bekanntlich ein soziales Wesen – definiert sich immer auch durch, mit der oder gegen die soziale Gemeinschaft, in der er lebt.
Wie bei der „Hybridin“ geht es der Künstlerin immer wieder um Geschlechterrollen, um Identität, mehr aber wohl noch um gesellschaftliche Rollen insgesamt. Sie zeigt, wie bestimmte soziale Zugehörigkeiten sich in Körperhaltungen, aber auch durch bestimmte Arten der Kleidung und der Accessoires ausdrücken.
Insofern arbeitet Stephanie Roos gewissermaßen soziologisch – ihre Skulpturen könnte man teilweise (im Sinne des Soziologen Max Weber) lesen als Idealtypen für bestimmte Rollenbilder.
Und doch genügt mir dies längst noch nicht, um die Anziehungskraft der Figuren zu erklären. Hinzu kommt eine sehr eigenwillige und besondere Note im Ausdruck der Figuren: sowohl in ihrer Physiognomie als auch konkret im mimischen Ausdruck glaube ich ein „lakonisches“ Weltbild zu erkennen:
Es ist wie es ist, aber: Muss es so sein, könnte es auch ganz anders sein, könnte ich selbst ein anderer sein?
In einem seiner Texte schrieb Sven Regener (Element of Crime): „Manchmal wüßt‘ ich wirklich gern, wer ich wirklich bin!“
Die Skulpturen beschreiben bestimmte Rollenbilder, die sie gleichzeitig hinterfragen.
Sie beschreiben und bezweifeln gleichzeitig die Rollenklischees, denen man als Mensch womöglich gerade entspricht und doch überhaupt nicht weiß, ob selbige selbst gewählt, zufällig oder schicksalhaft sind. Sind sie womöglich ganz vorläufig oder gar falsch, sind sie womöglich meinem eigentlichen Ich fremd – von außen aufoktroyiert, von der Gesellschaft?
Stephanie Marie Roos erklärt ihre Vorgehensweise so:
„Die Arbeiten lehnen sich an die Realität an; gerne arbeite ich auch mit Fotografien oder Spiegeln. Die Arbeiten sind jedoch nie als ein „Nachbau“ der Realität zu verstehen…sie sind der Übertrag in eine Erzählung…sie sind das Ergebnis, wenn ich etwas im Atelier auf meine Art untersucht habe.“
Diese Art der Annäherung an die Wirklichkeit bringt es mit sich, dass immer wieder auch klischeehafte Elemente in den Vordergrund treten. Ganz ähnlich wie Max Weber, der in seinen „Idealtypen“ ja letztendlich auch Verkürzungen/Klischees nutzt, bzw. eben auf den Punkt bringt, arbeitet die Künstlerin hier beschreibend oder „erzählend“.

Die Künstlerin beweist hier tatsächlich eine erfrischend wissenschaftliche Distanz.

Sie arbeitet, um gleich weitere wichtige Termini von Max Weber einzubringen, wertfrei: Es geht nicht darum, zu (be-) werten, sondern darum, zu verstehen. In Max Webers Konzept der Soziologie spielt dabei der Begriff des „erklärenden Verstehens“ eine wichtige Rolle.
Um zu begreifen, bedarf es der Annäherung. Unabdingbar notwendig ist dabei Distanz. Hier sind Wissenschaft, Kunst und Journalismus verwandt: Man muss nahe dran gehen, um zu sehen und Abstand bewahren, um zu beschreiben, zu erklären – als Journalist. Als Künstlerin aber kann Stephanie Marie Roos einen Schritt weiter gehen:

Mit ihren Keramik-Arbeiten zeigt sie , dass es eine gemeinsame Welt ist, die wir nur vielleicht (und wahrscheinlich nicht wesentlich) verändern können: Doch wir können versuchen, zu verstehen und eben auch das eigene Involviertsein zu verstehen.
Anders als Journalismus und Wissenschaft kann Kunst die äußere und die innere Welt gleichzeitig zum Gegenstand der Betrachtung machen.

„Du musst Dein Leben ändern“ – dieser berühmte Buchtitel von Peter Sloterdijk wäre, glaube ich, ein guter Ausstellungstitel für die Arbeiten von Stephanie Marie Roos.
Oder, in meinen bescheidenen Worten, hier ausnahmsweise in Englisch:
If you don’t know where to go:
Try to find out who you are!

Stephanie Marie Roos erläutert nachfolgend selbst ihre Arbeit:

Der Kern meiner Arbeit ist die Beschäftigung mit dem Menschen.
Dabei fasziniert mich – neben der Physiognomie und wie der Körper die innere Haltung widerspiegelt – der Mensch als soziales und kulturelles Wesen:
Wie der Mensch versucht, seine Identität zu definieren, das Selbstverständnis seiner Rolle im Gefüge der menschlichen Gesellschaft, kommen in seiner Kleidung und seinen kulturellen Accessoires zum Ausdruck.

Kleidung hat also wie der Körper zum Einen die physische Komponente, die Herausforderung Stofflichkeit und das Darüber und Darunter zu erfassen; zum Anderen auch eine symbolische Bedeutungsebene.
Zu den Themen, die mich bei der Betrachtung des Menschen immer wieder beschäftigen, gehört die Frage nach den Geschlechterrollen oder nach der Zugehörigkeit zu Gruppen…der auch politische Aussagen z.B. über Nationalität…
Letzten Endes geht es bei meinen Arbeiten immer um gedachte Grenzen, kulturell gewachsene Grenzen und wie der Einzelne in diesem unübersichtlichen Gelände seine Identität sucht.

Auf diese Weise erleben wir in den Skulpturen von Stephanie Roos eine Art der Verbindung aus gesellschaftlicher Beobachtung (der empirischen Sozialforschung verwandt) und der Kunst; wobei Stephanie Marie Roos‘ künstlerische Ausdrucksweise sich immer durch einen Aspekt persönlicher Kommentierung auszeichnet. Dehalb nenne ich nenne meinen Textbeitrag:
„Gesellschaft erzählen“

Jürgen Linde im März 2020 (www.kunstportal-bw.de)

Galerie Terra Delft, NL

Im Juni letzten Jahres brachte Stephanie Marie Roos uns einige ihrer neuen Stücke:
In diesen lebensgroßen Büsten konzentriert sie sich in ihrer exzellenten Technik noch mehr auf Details. Auch wenn dies Porträts von Menschen sind, die Sie kennen könnten – mein erster Ausruf, als ich den „Schmetterlingsmann“ sah, war tatsächlich „Den kenne ich!“ – es geht letztendlich nicht um Ähnlichkeit: Diese Arbeiten erzählen etwas jenseits des Bildes- sie sprechen mit einem.
Stephanie beschrieb den neuen Ansatz als eine psychologischere Art, in menschliche Ausdrücke einzutauchen. Sie suche nicht die große Geste, eher einen magischen Moment, der die Person erfasst.

Tief in ein Porträt eingetaucht zu sein, bedeutet so viel mehr als eine Person darzustellen. Neben dem Erfassen des Wesentlichen der dargestellten Person ist es immer eine psychologische Untersuchung der eigenen Person und Geschichte. Es ist eine Art Erkundung des Fremden und des Eigenen … was ich an mir nicht sehen kann, erlaubt das Bild des anderen …
Es ergibt sich oft ein fantastisches Element, das das Porträt ergänzt und mit einer anderen Ebene jenseits der Individualität verbindet und die allgemeine Tragödie der Existenz symbolisiert – Vergänglichkeit, Irrtum, Angst, Wünsche, Einsamkeit…. „ (S. Roos)
Als unsere Ausstellungsplanung konkret wurde, erzählte sie uns, dass die Porträts von dem Buch „Killing Commendatore“ von Murakami inspiriert wurden und ihr Vorschlag für den Ausstellungstitel „Magic Reality“ schien auch sehr gut zu ihren Stücken zu passen.
 
„Killing Commendatore“ erzählt die Geschichte eines abstrakten Malers, der seinen Lebensunterhalt mit Porträtmalerei verdient. Da er ein besonderes Gedächtnis für Gesichter und ein Auge für das Wesentliche von Menschen hat, ist er gut in seinem Geschäft, verliert aber irgendwie die Verbindung zu seiner eigentlichen künstlerischen Arbeit. Als seine Frau ihn verlässt, gerät er in eine Lebenskrise. Eine verwirrende Reise mit seltsamen Begegnungen und surrealen Elementen beginnt. Unter anderem findet er ein Gemälde, das die Mordszene von Don Giovanni darstellt. Dieses Bild – „Killing Commendatore“ – eröffnet dem Maler eine neue Perspektive und wird zu seiner neuen künstlerischen Richtschnur.
„Ich hatte die Idee, Murakamis Büchern eine Gestalt zu gebe, schon lange mit mir herumgetragen. Man kann sagen, er ist mein literarisches Vorbild. Ich bin fasziniert von seinem klaren Erzählstil, seiner Genauigkeit, den anschaulich beschriebenen Figuren, immer mit sehr präzisen Bildern ihrer Kleidung, und gleichzeitig den surrealen und den magischen Momenten. Ich bewundere die Komplexität und Freiheit bei der Auswahl der Motive, die Leichtigkeit, mit der er eine Geschichte schreibt, die im zeitgenössischen Japan spielt und wie er gleichzeitig seine Leser auf Exkursionen in die Weltgeschichte schickt und Motive aus Kunstgeschichte, Mythologie und Märchen verwendet.
Dass ich schon mitten in dieser Arbeit war und dass es keine illustrative Arbeit sein würde, wurde mir erst nach einer Reihe von Porträts klar. Ich hatte den Weg von Murakamis Protagonist, dem namenlosen Porträtmaler, eingeschlagen. “  

(S. Roos)
Der Maler im Buch möchte keine Porträts mehr malen, jedoch bekommt er eine lukrative Auftragsarbeit. Die Erwartungen dieses Kunden unterscheiden sich jedoch von den üblichen, die einfach mit großer Ähnlichkeit zufrieden sind. So hat der Künstler zum ersten Mal die Freiheit, sein Handwerk in ein Kunstwerk zu verwandeln, in dem der Moment, in dem ein Porträt „universell gültig“ wird, nicht von der Ähnlichkeit abhängt. Auf diese Weise findet der Künstler seine eigene Freiheit wieder und versucht, ein Porträt eines Mannes zu malen, dessen Gesicht er nicht vergessen kann und der seine Ängste verkörpert: „Der Mann mit dem weißen Subaru-Forester“. Dieses Porträt gelingt ihm aber nicht, weil er nicht fähig ist, daran weiter zu malen.
„Einige meiner Models waren zufällig ausgewählte Personen, weil sie die Idee interessant fanden oder weil es ihnen nichts ausmachte, fotografiert zu werden. Ich hatte sie um Fotos, gebeten, weil mich irgendetwas in ihnen angesprochen hatte und ich herausfinden wollte, was es war. Manche der Porträts sind Selbstporträts. Manchmal gab es zuerst die Geschichte und dann die Person dazu. Aber diejenigen, in denen die Geschichte erst während der Arbeit entstand, waren magisch … Es gab auch viele Momente des Kampfes und Porträts, die sich einfach weigerten, so wie im Buch, als der Maler nicht in der Lage ist, mit einem bestimmten Gemälde fortzufahren, und es zu ihm sagt: „Lass es in Ruhe!“ (S. Roos)
Terra Delft blickt auf eine lange Geschichte in der Ausstellung figurativer Skulpturen zurück. Nach der Vergrößerung und Wiedereröffnung der Galerie im Jahr 2001 zeigten wir Werke von Carolein Smit, die die Kunstszene durch ihre kontroversen Themen erschüttert hat. Auch Alessandro Gallos Halb- Tier-Halb-Mensch-Figuren wurden in unserer Galerie gezeigt. Beide Künstler wurden weltberühmt und sind international anerkannt.
Wir sind stolz darauf, Stephanie Marie Roos´ Skulpturen in Delft zu zeigen und sehen auch für ihre Kunstwerke eine große Zukunft: Hier sehen wir eine Künstlerin, die mit Herz und Seele Keramikerin ist und perfekte realistische Keramikskulpturen macht. Für eine Keramikkunstgalerie wie Terra Delft ist dies eine wahre Freude. Diese Arbeiten bringen die verschiedenen Aspekte der Keramikkunst zusammen: Idee – Technik – Ausdruck.
 
Simone Haak and Joke Doedens,
Galerie Terra Delft, Niederlande

Artikel in der „neue keramik“, 02/ 2021, S.30/31

Die Kraft der Kunst – Keramiksymposium Römhild 2022

„Auf Schloss Glücksburg habe ich mein Modell für den Schlossherren gefunden. Meine Figuren möchte ich ambivalent halten. Ich urteile nicht über sie, sondern schreibe mögliche Sichtweisen in sie ein.“
„Die Kraft der Kunst steckt im Machen selbst, im Spielerischen und Assoziativen von künstlerischer Arbeit.“

Stephanie Marie Roos hat sich auf Schloss Glücksburg und darüber hinaus in der Stadt umgeschaut. Sie gehört zu jenen Künstlerinnen und Künstlern, die ein Gespür haben für Geschichten, die an fast allen Menschen haften.
Ihre Büsten und Halbfiguren der letzten Zeit kann man als Erzähltheorie mit künstlerischen Mitteln bezeichnen.
Welche Geschichten erzählen wir über Menschen, die wir kennen oder zu kennen glauben? Welche Geschichten erzählen wir über uns selbst? Wie stark sind diese Erzählungen konstruiert? Und was wiederum sagt das über unsere Gesellschaft?
In diesen Beschreibungen von Menschen, die jede und jeder von uns vornimmt, steckt viel von uns selbst, von unseren eigenen Erfahrungen drin – so eine Hauptannahme von Stephanie Marie Roos, die sie zum Ausgangspunkt ihrer künstlerisch-soziologischen Forschungen nimmt. Und so ist es immer wieder ein Spiel, bei dem sie selbst beobachtet, wenn sie neue Menschen kennen lernt und diese zum Gegenstand ihrer Arbeit macht.
In Römhild war das ein Kameramann, der am ersten Symposiumstag für das Fernsehen filmte, und ein Bewohner von Schloss Glücksburg. Durch genaues Taxieren – als Gedächtnisstütze per Foto festgehalten – und Gespräche über Erlebnisse und Eigenschaften dieser Männer, die sie während des Modellierens noch weiter verfeinerte und die Büste weiter formte, entstehen die Figuren. Darüber hinaus entwickelt sie über ihr herausforderndes plastisches Arbeiten eine eigene künstlerische Form, mit einem klaren Kosmos und Erfahrungsansatz. Und so ist bei ihrem Tun die Frage, ob wir diese Personen gut beschreiben würden.
Auch formal fand die in der Nähe von Karlsruhe lebende Künstlerin in Römhild passende Anregungen – etwa die roten Brandfarben der hiesigen Kunst.
Mit diesen Voraussetzungen nutzte sie für Versuche in unterschiedlichen Maßstäben und für Brände im großen Ofen.

Ruth Heftrig im Katalog zum Internationalen Keramiksymposium in Römhild 2022 „Die Kraft der Kunst“, S.36

SEE. ME. NOW.

„Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,
liebe Stephanie Roos,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich möchte Sie ganz herzlich willkommen heißen zur Eröffnung der Ausstellung „SEE. ME. NOW“, die von heute an bis zum 9. Juni in der Städtischen Galerie Neunkirchen zu sehen ist.
Besonders begrüße ich die Künstlerin Stephanie Marie Roos, die heute aus Achern bei Baden-Baden zu uns gekommen ist. Herzlich willkommen, liebe Stephanie Roos!

Sie haben es bereits gehört, meine Damen und Herren: zum ersten Mal in der 32-jährigen Geschichte der Städtischen Galerie Neunkirchen zeigen wir eine Einzelausstellung keramischer Kunst. Mit dem KKM Keramik Kunst Museum, das wir im Sommer 2023 eröffnen konnten, ist in unser Haus eine bedeutende Sammlung zeitgenössischer Keramik der Stiftung Hannelore Seiffert eingezogen, die große Beachtung findet – nicht nur in Keramik-Kreisen, sondern ebenso beim bisher hauptsächlich kunstinteressierten Publikum. Das, was wir uns mit der Zusammenlegung von Keramikmuseum und Städtischer Galerie hier unter dem gemeinsamen Dach des KULT.Kulturzentrums erhofft hatten, der vielzitierte Synergieeffekt, ist tatsächlich eingetreten. Wir sind sehr glücklich darüber, dass beide Einrichtungen sich so gut ergänzen und sich gegenseitig in ihrer positiven Wirkung stärken.
Nicht zuletzt diese Erfahrung war es, die uns zu der Ausstellung von Stephanie Marie Roos veranlasst hat, bei der wir erstmals explizit die Verbindung zwischen den beiden Bereichen thematisieren. Es wird sicherlich nicht die letzte Ausstellung dieser Art sein, denn wir planen, die Keramik auch in Zukunft immer einmal wieder in den Kontext der aktuellen Kunst stellen. Damit möchten wir bewusst auch der Entwicklung Rechnung tragen, die seit einigen Jahren
deutlich zu beobachten ist: die Keramik gewinnt zunehmend größere Präsenz und ist dabei, sich einen selbstverständlichen Platz in der zeitgenössischen Kunst zu erobern. Dies ist erfreulich und überfällig, war das Medium doch viel zu lange mit der stereotypen Verortung im Kunsthandwerk belegt.
Wir freuen uns sehr, mit den Arbeiten von Stephanie Marie Roos eine ganz herausragende und im europäischen Umfeld einzigartige Position keramischer Kunst vorstellen zu können. Stephanie Marie Roos arbeitet seit vielen Jahren ausschließlich mit dem Werkstoff Keramik. Dabei setzt sie sich mit scheinbar Naheliegendem auseinander, denn die Bildhauerin richtet ihren Blick auf die
Menschen. Die menschliche Figur – sie ist das klassische Thema der Bildhauerei:
Von der griechischen Antike über die Skulptur der Renaissance bei Michelangelo, die Barockskulptur eines Lorenzo Bernini oder die Werke von Auguste Rodin, des Begründers der modernen Bildhauerei, über die expressionistische Skulptur bei Wilhelm Lehmbruck, Ernst Barlach oder Käthe Kollwitz, über Giacometti bis zu Niki de Saint Phalle, Stefan Balkenhol und den zahlreichen Repräsentanten figurativer plastischer Kunst der Gegenwart.

Auch Stephanie Marie Roos widmet sich in ihrem keramischen Werk ausschließlich der menschlichen Figur, dabei fokussiert sie insbesondere die Menschen, die uns in unserer realen Lebenswelt umgeben, sowie solche, die uns tagtäglich virtuell in den Medien begegnen. Die Vorlage bilden meist Fotografien – entweder ihre eigenen oder Fotos, die sie im Internet findet. Die Bilderflut, der wir alle ausgesetzt sind, der wir uns selbst auch oft bewusst aussetzen,
bewältigt Stephanie Marie Roos durch Selektion, gedankliche Reflektion und künstlerische Aneignung.
Die Künstlerin entwirft in ihrem keramischen Werk einen Kosmos unterschiedlichster Identitäten der modernen Gesellschaft. Ihre keramischen Menschenbilder, von denen wir heute rund 50 Beispiele sehen können, spannen ein großes Spektrum menschlicher, kultureller, gesellschaftlicher
und politischer Vielfalt auf. Durch Kleidung, Accessoires und Habitus charakterisiert sie die Figuren als zeitgenössische Menschen und Repräsentanten bestimmter Gruppen. Diesen Dingen, die sie den Figuren beigibt, gilt ihr besonderes Augenmerk – seien es nun die mit
Metallspitzen bewehrten Schuhe des ratlos dreinblickenden Machos, der Lippenstift, mit dem sich eine am Boden Sitzende den kurzen Gruß „HI“ auf die Handfläche geschrieben hat, das Handy, auf dem Narziss sein Selfie betrachtet oder der winzige Diamant-Stecker im Ohr des kunstvoll tätowierten „Modern Warrior“.
Vielfach haben die Gegenstände oder Accessoires eine über das Spielerische hinausweisende Identifikationsfunktion: Sie übernehmen die Funktion von Attributen. Damit nähern sie sich der christlich-abendländischen Bildhauerei, die ihren Heiligenfiguren ebenfalls ganz bestimmte Attribute zuordnet.
Der Bezug wird explizit deutlich in der Serie der „Apostelinnen“:
12 unterschiedlich große, weibliche und männliche Figuren, jede auf einem goldenen Sockel positioniert und mit kulturellen oder politischen Symbolen und Insignien einer bestimmten Gruppe ausgestattet, stellen Demonstranten dar, die sich für aktuelle Anliegen einsetzen: die Klimakleberin mit orangefarbener Schutzjacke, der Protestierende mit dem Plakat gegen den russischen
Angriffskrieg, der Transsexuelle mit Plateausohlen und Regenbogenfahne oder der Demonstrant in Tel Aviv mit Kippa und der israelischen Flagge um die Schultern.
Die Künstlerin arbeitet mit bekannten Bildern, die wir alle aus den Medien kennen, und mit den dazugehörigen Zeichen und Symbolen, die genau diese Bilder immer wieder aktualisieren, um damit eine Streuwirkung zu erzielen. Die Ästhetik des Protests funktioniert ähnlich wie die kirchliche Ästhetik mit den mittelalterlichen Heiligenfiguren, deren Attribute jeweils eine eigene
biblische Geschichte transportieren.
Der Mensch definiert seine Gruppenzugehörigkeit über solche Symbole – im täglichen Leben insbesondere aber auch über seine Kleidung. Die Wahl der Kleidung spielt bei der Figurengestaltung von Stephanie Marie Roos folglich eine ganz zentrale Rolle:
„Ich lege einen besonderen Fokus auf Kleidung“, so Roos, „aber es geht mir nicht um Mode. Kleidung verortet uns in Gruppen, sie trifft Aussagen darüber, wer wir sein möchten oder wem wir uns zugehörig fühlen. Ich habe das anfangs weniger politisch betrachtet, aber es wird natürlich automatisch politisch, sobald ich beispielsweise einem Mann einen Rock anziehe.“ – sagt die
Künstlerin.
Geradezu unweigerlich setzen die Keramikfiguren der Ausstellung „SEE. ME. NOW“ Assoziationen in Gang, sie stellen narrative Zusammenhänge her, erzählen Geschichten – jede für sich als Einzelfigur und immer wieder neu in verschiedenen Konstellationen. Im Dialog variiert die Lesart jeder Figur: Die besorgte Mutter, die das Handyfotos Ihres Sohnes als Soldat vorzeigt, erhält eine noch eindrücklichere Wirkung in der Serie gleich neben dem Kleinkind, das wie in Russland üblich, zum Tag der Befreiung am 9. Mai, in eine Mini-Uniform gesteckt und von der Hand seiner Mutter hochgehalten wird.
Das aktuelle Zeitgeschehen, politische Ereignisse, gesellschaftliche Konstellationen und daraus resultierende Fragestellungen spielen eine zentrale Rolle in der künstlerischen Arbeit von Stephanie Marie Roos. Darüber hinaus ist sie eine Meisterin der keramischen Technik.
Ihre Figuren baut sie hohl und sehr dünnwandig auf, nur selten verwendet sie Glasuren. Farben werden im ungebrannten Zustand als Engobe (eingefärbte Tonmineralmasse) aufgebracht und meist akzentuiert eingesetzt, um einen bestimmten symbolischen oder narrativen Zusammenhang zu verdeutlichen. Da die Künstlerin oft experimentell vorgeht und immer wieder neue gestalterische Möglichkeiten des Materials Ton erkundet, erzeugt sie eine Vielzahl unterschiedlicher Texturen. Während Materialien wie z.B. Metall oder Stoff in einer virtuosen illusionistischen Technik oft täuschend echt wiedergegeben sind, erscheinen farblich unbehandelte Oberflächen vielfach rauh, erdig und teilweise brüchig, wodurch die Figuren eine gewisse Fragilität erhalten, die im Widerspruch zu ihrer selbstbewussten Haltung und ihrem Habitus steht.
Diese Ambivalenz von Stärke, Stolz und Selbstbewusstsein als Repräsentant einer Rolle einerseits sowie Fragilität und Zweifel bei der Suche nach der eigenen Identität andererseits ist etwas, das allen Figuren zu einem gewissen Grad eigen ist. Sie geht einher mit der eher ernsten, zurückgenommenen Ausdruckslage der Figur, die porträthaft als individuelle Person charakterisiert ist und doch zugleich so weit typisiert, dass sie und ihre Aussage Allgemeingültigkeit erhält.
In der bildnerischen Annäherung an die andere, die fremde Person relativieren sich Perspektiven der Nähe und der Distanz. Die keramischen Menschenbilder von Stephanie Marie Roos sind Bildnisse von Zeitgenossen, die Beachtung einfordern für sich und das, wofür sie stehen: „See. Me. Now!“ Aber sie besitzen Authentizität auch jenseits des Abbildlichen.
Dass Keramik solche Sinnbezüge aufgreift, dass sie hochaktuelle politische und gesellschaftsrelevante Themen verhandelt, ist in dieser Form einzigartig.
Ich bedanke mich bei Stephanie Marie Roos für diese spannenden Einblicke in ihr
keramisches Werk und für die Denkanstöße, die ihre Arbeiten sicherlich bei vielen Betrachtern ausgelöst haben und noch auslösen werden.
Weiterhin möchte ich allen Leihgeberinnen und Leihgebern für ihre Unterstützung und ihr Vertrauen danken und würde mich freuen, diejenigen, die heute Abend unter uns sind, persönlich kennenzulernen.
Nicht zuletzt geht mein Dank an unser Galerieteam – für den engagierten Einsatz danke ich insbesondere meinen Kolleginnen Dr. Liane Wilhelmus und Nina Pirro, sowie dem Aufbauteam mit Thomas Kuhn, Benedikt Wamprecht und Sidra al Assadi.
Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihr Interesse und wünsche Ihnen noch einen interessanten und angenehmen Abend.“

Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Stephanie Marie Roos: SEE ME NOW“, 15.03.2024
Städtische Galerie Neunkirchen – Nicole Nix-Hauck

Phoenix Kunstpreis

„Der PHÖNIX fördert talentierte Nachwuchskünstler durch den Ankauf von Kunst in Höhe von 20.000 Euro. Darüber hinaus werden die Preisträger:innen durch Ausstellungen und langfristige Begleitung unterstützt. Zugelassen sind ausschließlich Gemälde, Skulpturen und Papierarbeiten. Bei der Ehrung mit dem Phönix Kunstpreis geht es also darum, nicht nur überzeugende Kunst, sondern auch eine klar umrissene Kunstform in den Blick zu nehmen: sehr wichtig!- wie ich finde- in einer Zeit, in der die Machart von Kunst mit dem inflationär gebrauchten Begriff Mixed Media zunehmend verschleiert wird. Ein Trend, der in Werksangaben, auf Schildern oder in der Presse seit Jahren kursiert. Und der für Stephanie Marie Roos nicht zutrifft.
Stephanie Marie Roos erschafft Kunst aus Ton, Keramikkunst. Und die, so sagt sie, “verzeihe einem Fehler nicht so leicht”. Es sei, das sagt die Künstlerin offen, in erster Linie ein Handwerk. Zu was dieses Handwerk im zweitem Schritt führen kann, darauf komme ich noch. Lassen Sie mich zunächst hervorheben, wie radikal es heutzutage erscheint, sich als zeitgenössische Künstlerin auf einen Werkstoff gänzlich und vollkommen einzulassen. Sich in die eine Materie zu vertiefen. Mit geschulter Hand dem Ton zu begegnen. Und so virtuos damit handzuhaben, als wäre- wenn das Ergebnis zutage tritt- Zauberei im Spiel. Dieses Ergebnis entsteht freilich auch mithilfe des Zufalls: Es geht darum, ein Gefühl oder einen Zustand künstlerisch auszudrücken und dabei sowohl dem Material als auch dem Moment das Einzigartige abzuringen. Wie Stephanie Marie Roos das gelingt, sie Gefühle und Zustände verbildlicht und vertont, ist virtuos, berührend und höchst zeitgenössisch. Denn obgleich sie sich einer traditionellen Arbeitsweise bedient, ihr Figurenkabinett bezieht sie aus dem Heute: von der Straße, aus den virtuellen Räumen oder auch dem eigenen Spiegelbild.

Lassen Sie mich nun, bevor ich zu ihren Figuren und ihrem einzigartigen Stil komme, ein paar Jahre im Leben der Künstlerin zurückgehen: Danach gefragt, was sie als Kind einmal werden wollte, antwortet Stephanie Marie Roos: “Nach der Landwirtin kam schnell Künstlerin”. Sie schmunzelt, als sie mir das erzählt, denn letztlich sei beides eingetroffen. Der Kunst, nur der Kunst, widmet sie sich seit 2011. Um hier anzukommen, musste sie allerdings einen Umweg über die Kunstpädagogik nehmen, mit einem Abstecher in die Werbebranche. Vorgeprägt war die Mündung in die freie Kunst dennoch früh: Aufgewachsen in einem Elternhaus, in dem die Mutter viel mit Ton arbeitete, gab es in der Nachbarschaft irgendwann eine Begegnung mit einem Künstler, der ihr zum leuchtenden Vorbild wurde.

Stephanie Marie Roos arbeitet bereits in Grundschulzeiten hohl, wenn sie ihre Tonfiguren erschafft. Es sind meist Tiere oder bisweilen Monster. Mit dem Material Ton ist sie als junges Mädchen zutiefst vertraut und wird doch- oder vielleicht gerade deswegen- später nach ihrem sehr klassischen Studium in Weingarten (sie studiert Plastik und Zeichnung), mit Beton arbeiten. Es sind die 90er Jahre in der BRD und figürliche Kunst bzw. Keramik verpönt. Das bekommt sie im Studium deutlich zu hören: als “zu literarisch” ohrfeigt ein Professor ihren Stil, den sie während der Ausbildung fortan zu Hause (gedeihen) lässt. In der Klasse fügt sie sich dem Glauben an die einzig wahre, die abstrakte Ausdrucksweise. Nur im geschützten Zuhause lebt sie ihre Kunst figürlich aus. Weil für sie der Mensch ein Gefäß ist, vielleicht auch ein Spiegel, für alles, was da ist in der Welt. Und es ohne den Menschen daher nicht reüssieren kann, die Welt abzubilden, wahrzunehmen und zu enträtseln. Als mir die Künstlerin von den Erfahrungen in ihrem Studium erzählt, kommen wir auf die Kunstkritik und die Vorlieben heute auf den unterschiedlichen Kontinenten zu sprechen. In den USA etwa sind und waren figürliche Keramiken stets geschätzt. In Japan gilt die Keramik als Hochkultur, sie sollte aber bloß nicht figürlich sein. In Deutschland war Keramik lange im Kunstkanon nicht existent, vor etwa 15 Jahren gab es aber einen Bruch. Es tut sich etwas, und sogar figürliche Keramiken schwimmen sich frei vom Stigma “zu literarisch“ oder “reines Handwerk”.

Aber auch Keramik ist nicht gleich Keramik: An Stephanie Marie Roos Arbeiten imponiert die fast magische Präsenz ihrer Gestalten. Nicht umsonst hieß eine Soloausstellung in Delft “Magic Reality” (April bis Mai 2021, Gallery Terra Delft, Delft, Niederlande). Roos’ Figuren (von der Miniatur bis lebens- und überlebensgroß) wirken beseelt und als ob sie jeden Moment atmen könnten. Ähnlich wie man es den Skulpturen aus der Antike nachgesagt. Wirkmächtig erleben wir die Präsenz dieser, wenn auch grob verputzten Gestalten. Sie besitzen eine Aura, ein Charisma und bisweilen scheint es, als würde gleich einer der Dargestellten die Brust schwellen und die Muskeln anspannen, jemand anderes sich im nächsten Moment wegwenden, nichts mehr sagen (siehe Arbeit “Hi”) oder aber müde vom vielen Stehen endlich hinsetzen. Nein, die menschliche Figur, das klassische Thema der Bildhauerei, sie gerät nicht aus der Mode. Und Stephanie Marie Roos widmet sich ausschließlich der menschlichen Figur, Stil/ Auffälligkeiten Doch entgegen einem perfekten Illusionismus, findet sie einen eigenen Stil: Auffällig ist an ihren Figuren der grau-blasse Hautton und sind die so genannten wunden Stellen, die Werkspuren: “Ich mag Werkspuren von dem, was ich mache, ganz gerne”, sagt Roos. Denn so erst entstünden interessante Lichtwirkungen, Brüche, die etwas Magisches den Figuren verleihen. Auch Geheimnisvolles. Innovatives. Was an den Figuren farbintensiv dargestellt wird und glattgestrichen, bisweilen gold oder glitzernd, sind die Accessoires wie etwa Handy, Krone, Handspiegel. Auch Tattoos lässt die Künstlerin illusionistisch hervorstechen, um sie letztlich echter aussehen zu lassen als die Haut, in die sie scheinbar tätowiert wurden. Diese Darstellung von Menschen- denn als solche sind die Figuren identifizierbar, und eben keine Fabelwesen, wofür auch der Fundus und die Vorlagen, Fotos aus dem Internet sprechen- diese Art der Darstellung wirft schnell die Frage auf: Was sind wir noch ohne unsere Accessoires und Attribute? Ich möchte das Beiwerk mit dieser rhetorischen Frage keineswegs runter- oder schlecht machen. Mitnichten. Schon die antiken griechischen Götter und Halbgötter waren nichts/ scheinen unbeholfen und unvollkommen/ ohne ihre Attribute: Ohne den Helm (Athene), Spiegel (Aphrodite), Pfeil und Bogen (Artemis), usw. Erst die charakteristischen Beigaben verraten etwas über das Sein: ihre Aufgabe, Berufung, Macht. Und so sind auch wir, sterblichen Menschen, die wir nackt auf die Welt kommen, Zeit unseres Lebens tag täglich damit beschäftigt, uns zu kleiden, zu verzieren, zu charakterisieren. Mit unserem Beiwerk können wir nicht nur Signale setzen, uns einer Gruppe zuordnen, durch die Welt navigieren und überleben. Welche Werkzeuge und Waren wir nutzen und benutzen verrät etwas über uns und unsere Zeit. Kurzum: Stephanie Marie Roos’ Figuren geben uns einen Hinweis darauf, in welcher Welt wir leben. ZITAT: “Auch wenn meine Figuren sich in ihrer Darstellung an die Realität anlehnen, so geht es mir aber nicht um die Abbildung von Realität. Die Figuren verkörpern meine Spiegelung der Realität, sind Kaleidoskop für Beobachtungen und Assoziationen, Kompositionen aus Themen persönlicher und politischer Natur. Sie entstehen aus dem Spiel mit Themen und Bildern, aus Beobachtung und Selbstbeobachtung. Der Arbeitsprozess ist für mich eine eigene Art des Erkenntnisgewinns über das Menschsein, der keine sprachliche Überlegung bietet und durch nichts ersetzt werden kann.”
Politisch werden sie dann, wenn etwa ein Mann einen Rock trägt. “Wenn wir als Gesellschaft über Kleider und Gendersternchen diskutieren”, sagt Roos. Und letztlich geht es um die hehre alte Frage: Wer bin ich und mit wem umgebe ich mich. Der Mensch könne ganz wunderbar oder schrecklich sein, jede kulturelle Äußerung wird aber sinnlos ohne unsere Umgebung. Beim Verbildlichen dieser Gedanken geht es der Künstlerin nie um banale oder stimmige, auf der Hand liegende Verknüpfungen von Figur und Attribut. Um Binsenwahrheiten in Ton gebrannt. Es sind die Dissonanzen, die sie interessieren: Wenn etwa eine Mädchen-Figur das T-Shirt mit der Aufschrift “just a girl who loves wolves” trägt, ist die Botschaft oder Interpretation der Künstlerin: Das T-Shirt und das Märchen von Rotkäppchen verschmelzen zu einer delikaten Botschaft, in der wohl auch die seismografische Natur von Künstlern durchschimmert. Denn, so sagt Roos, “das hat für mich eindeutig etwas Pädophiles”. In der Figuren-Gruppe der Apostelinnen indes- hier wird die weibliche Form gebraucht, trotz der Mehrzahl an männlichen Figuren- kommen die Couragierten unserer Gesellschaft auf einen goldenen Sockel, geht es um Protestierende, die wie Heilige dargestellt werden: 12 weibliche und männliche Figuren, unterschiedlicher Größe, jede auf einem goldenen Sockel wie man es von mittelalterlichen Skulpturen kennt, hat Roos mit kulturellen oder politischen Symbolen und Insignien einer bestimmten Gruppe ausgestattet. Sie repräsentieren jene, die sich aktuell für Weltverbesserungen einsetzen: die Klimakleberin mit orangefarbener Schutzjacke, der Protestierende mit Plakat gegen den russischen Angriffskrieg, der Transsexuelle mit Plateausohlen und Regenbogenfahne. Die Künstlerin arbeitet mit Medien-Bildern und mit Figuren, deren zugehörige Zeichen jeder kennt und sie folglich eindeutig zu entschlüsseln weiss. Die Ästhetik des heutigen Protests, das wird hier deutlich, funktioniert ähnlich wie die der mittelalterlichen Heiligenfiguren. Damals die Attribute, die auf eine biblische Geschichte hindeuten. Heute die Attribute, die das aktuelle Anliegen und den Protest für oder gegen etwas verraten. Für Mittelalterliche Plastik schwärmte die Künstlerin übrigens schon früh. Als Kind liebte sie es, stundenlang in Kirchen zu verweilen und den Faltenwurf der Gewänder zu bestaunen. Andere Quellen ihrer Inspiration sind die Literatur von Haruki Murakami, der Zitat: “Kleidung so wundervoll zeitgenössisch beschreiben kann”. Mir persönlich kam beim Betrachten der Arbeiten auch Kunst von Kiki Smith in den Sinn: Ich erkenne Parallelen in der Darstellung, mehr noch als in der Aussage: Etwa in der poetischen Blässe, der Grobheit statt Glätte der Haut und der Schönheit in der Traurigkeit, wenn es um den Ausdruck der Figuren geht.

Den Werkstoff Ton verwendet Stephanie Marie Roos in seiner ureigensten Funktion. In etlichen Schöpfungsgeschichten ist es das Material, aus dem der Mensch erschaffen wurde. Roos fängt die Vielfalt des Menschen, wie sie uns heute begegnet, ein, um einen Erkenntnisgewinn zu erlangen. Über uns, unsere Wünsche, vielleicht auch die uns bevorstehenden Herausforderungen und Gefahren. Auf formal-ästhetischer Ebene findet sie dafür einen eigenen unverwechselbaren Ausdruck, der zur Marke wurde. Dabei beherrscht sie ihr Handwerk bravourös, denn obgleich der Ton verlockende Eigenschaften besitzt- er ist gefügig, weich, scheinbar ohne Widerstand: Wenn man mit ihm sinnvoll umgehen möchte, bedarf es der Sicherheit in seinen Zielen und gegenüber der Eigengesetzlichkeit des Werkstoffs. Erst recht, da die Tongebilde im Brand weiteren Prozessen ausgeliefert sind. Die Ergebnisse von Stephanie Marie Roos weisen diese Sicherheiten auf und betören mit ihrer kraftvoll-fragilen Machart und der dissonanten Poesie.“

Laudatio von Agnes D. Schofield anlässlich der Preisverleihung des 14. Phoenix Kunstpreis am 17.07.2024